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Leseprobe

Heute bist du deutlich geworden: Du seist lebenssatt. Nicht lebensmüde, aber lebenssatt. Das ist dein Argument dafür, deinem Leben bald ein Ende zu setzen. Wie ich dich kenne, wirst du dich nicht abhalten lassen. Wer satt ist, hat genug, das ist im Leben wie beim Essen. Du bist bald neunzig. Ich hoffe, das Leben hat dir wenigstens geschmeckt.

 

Ich kenne Vaters Haltung zum selbstbestimmten Sterben, seit sich seine Schwester mit neunzig Jahren für den Freitod entschieden hat. Damals hatte ich mich gerade in der asphaltierten Weite eines amerikanischen Supermarkt-Parkplatzes verloren, als mein Handy klingelte. Vaters sphärisch verzerrte Stimme klang wie bei der Verlesung eines Militärrapports. Plötzliches Herzversagen, wollte er mir weismachen. Aber die einzelnen Gänge der aufgetischten Geschichte waren nicht recht aufeinander abgestimmt, nichts schien zusammen zu passen. Es war Mutter, die uns ein paar Wochen später über den wahren Sachverhalt aufklärte. Die halbe Wahrheit war letztlich eine große Lüge, die sie gegenüber ihren Söhnen nicht stehen lassen mochte. Da erst redete auch Vater mit mir und meinem Bruder Martin. Unsere Tante war mit Unterstützung einer Sterbehilfe-Organisation aus dem Leben geschieden. Mein Vater war ihr dabei eine Hilfe. Er hatte ihr bei der Vorbereitung geholfen, und er hielt ihre Hand, als sie den Trank vom „Todesengel“ entgegennahm. Er machte keinen Hehl daraus, dass er sich diese Option selbst offen hielt. Davon wollte Mutter nichts hören. Sie wies den Freitod stets vehement von sich und missbilligte Vaters Absicht, „sich aus dem Staub zu machen“.

 

Nicht wahr, das war schon damals deine Lösung, die du mit deiner Lieblingsschwester ausgeheckt hattest, falls das Leben nicht nach eurem Willen enden sollte.

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